Wie soll Schule sein, damit Kinder neugierig bleiben und gerne lernen? Bildungsexpertin Rahel Tschopp sucht im In- und Ausland nach Antworten. Im Interview spricht sie über ihre eigene Schulzeit, die Macht der Bilder und Wege zu mehr Freiraum im Schulalltag.
Seit Anfang Jahr gibt Rahel Tschopp in ihrer Kolumne bei LerNetz Schule Einblicke in ihre Schulbesuche. Wer ist eigentlich die Frau hinter der Kolumne? Und vor allem: Was treibt sie an? Diesen Fragen sind wir im Interview mit der Bildungsexpertin auf den Grund gegangen.
Rahel, du hast dich in deiner Laufbahn in diversen Rollen in der Schule engagiert – als Lehrerin, Heilpädagogin, Schulleiterin und als Leiterin des Zentrums Medienbildung und Informatik an der PH Zürich. Was verbindet diese?
In all meinen Rollen war und ist es mein Ziel, Kindern Möglichkeiten zu schaffen, die Welt selbst zu entdecken und weiterzukommen. Die Frage, wie Schule gestaltet werden soll, damit sich Kinder optimal entfalten können, treibt mich seit jeher um.

Wie hast du deine eigene Schulzeit erlebt?
In der Primarschule war ich häufig unterfordert und gelangweilt. Mein Ansporn war es, immer möglichst schnell fertig zu sein und möglichst viele 6er zu sammeln. In der Kanti hat das dann 180 Grad gekehrt. Ich hatte mir zuvor keine Lernstrategien angeeignet und war überfordert. Ich zog mich zurück, verstummte und verlor komplett die Orientierung. Diese Erfahrungen haben mein Engagement für die Schule sicher mitgeprägt. Wenn alle, die gleich alt sind, zur gleichen Zeit mehr oder weniger dasselbe lernen müssen, fallen zu viele aus dem Rahmen.
Seit 2021 hast du mit der Denkreise GmbH dein eigenes Unternehmen im Bereich der Schulentwicklung. Wie kam es dazu?
Als Leiterin des Zentrums für Medienbildung und Informatik an der PH Zürich setzte ich mich damals intensiv mit digitalen Medien auseinander: Wie können und wollen wir die neuen Technologien in der Schule nutzen? Mir war rasch klar, dass es nicht darum gehen kann, einfach ein neues Fach einzuführen. Und auch nicht, das Lernen ins Digitale zu verschieben. Es geht um Haltung, Strukturen und Organisation. Ich realisierte: Wenn ich meinen eigenen Fragen nachgehen will, dann bleibt mir nur der Weg über die Selbständigkeit. Ich hatte grosses Glück: Quasi sofort hatte ich einen grösseren Auftrag.
Woran arbeitet ihr bei Denkreise GmbH heute konkret?
Unter Schule verstehen heute immer noch viele «Schulhaus, Klassenzimmer, eine Lehrperson mit etwa fünfundzwanzig Kindern, Lektionen, Fächer, Prüfungen, Noten.» Dies wird seit einer Studie von Tyack und Tobin 1994 «Grammatik der Schule» genannt. Wir unterstützen Schulen, die davon wegkommen und andere Wege ausprobieren wollen. Zum Beispiel Schulen, die Kindern das Projektlernen ermöglichen wollen. Oder Schulen, die ihre pädagogischen Vorstellungen in Einklang mit der Architektur bringen wollen. Auch helfen wir diesen Schulen, ihre Stärken besser sichtbar zu machen und Stellen erfolgreicher zu besetzen.
Da du nicht mehr direkt im Schulbetrieb bist: Wie stellst du sicher, dass du erkennst, was Lehrpersonen und Kinder in der Praxis wirklich bewegt?
Wie ich Wirksamkeit erzeugen kann, beschäftigt mich ständig. Ich bin deshalb immer wieder in der Schule. Ich will mit allen Sinnen wahrnehmen, was Schulen ausmacht, wo der Schuh drückt, wo es vorwärts geht. Wenn ich Schulen besuche, sammle ich jeweils möglichst viele Eindrücke, um mir ein vollständiges Bild zu machen. Teilweise begleite ich Schulen auch mehrere Jahre.
Du machst viele Fotos von Schulen, die du besuchst. Einige davon zeigst du auch in deiner Kolumne bei LerNetz Schule. Was ist die Idee dahinter?
Bilder haben eine grosse Macht. Es lassen sich damit auch Vorstellungen verändern. Warum zeigen wir auf Schulbildern immer eine Lehrperson vorne vor der Tafel und Kinder, die sitzen und ihre Hand hochstrecken? Das kann auch ganz anders aussehen. Ich habe eine Datenbank von rund 15’000 Bildern aus Schulen. Diese bieten einen vielfältigen Zugang zur Schule. Ich kann damit Menschen auf einer emotionalen Ebene abholen und zeigen, wie Schule auch noch sein kann. Und weil ich die Bilder selbst gemacht habe, kann ich immer eine Geschichte dazu erzählen.
Du besuchst viele Schulen, auch im Ausland. Hast du die ideale Schule schon angetroffen?
Die ideale Schule gibt es nicht. Aber es gibt ideale Antworten auf lokale Gegebenheiten. Die Agora-Schulen in den Niederlanden zum Beispiel haben mich sehr beeindruckt. Sie arbeiten weder mit Fächern noch mit Lektionen. Zugegeben, ich war zuerst skeptisch und zweifelte, ob das für alle geht… Diese Schulen stellen die Neugier der Jugendlichen ins Zentrum. Sie lernen nach den eigenen Interessen, entlang eigener Fragestellungen. Und das funktioniert! Auch die Agora-Schulen arbeiten mit einem Lehrplan, er ist aber flexibler als unserer.
À propos «flexibel»: Du sagst, dass Lehrpersonen in der Schweiz ihren Spielraum innerhalb der kantonalen Vorgaben besser nutzen könnten. Zum Abschluss drei konkrete Tipps bitte!
Gerne!
- Erstens: Schau dir dein Schulzimmer mit Kinderaugen an: Wozu lädt die Zimmergestaltung ein? Steht den Kindern auch ein Rückzugsraum zur Verfügung? Wenn nicht, besprich mit den Kindern, wo ihr einen schaffen könnt.
- Zweitens: Führe das Projektlernen ein: Kinder dürfen z. B. während zwei Lektionen pro Woche regelmässig an einem eigenen Thema arbeiten.
- Drittens: Der Aussenraum bietet unzählige Lernmöglichkeiten. Verleg das Lernen nach draussen: In das Dorf, in den Wald, auf den Pausenhof.
Die niederländischen Agora-Schulen
Die Agora war im antiken Griechenland der zentrale Platz einer Stadt. Am Bild dieses Platzes, wo man sich trifft und sich gegenseitig inspiriert, orientieren sich die niederländischen Agora-Schulen. Hier geht’s zum Online-Auftritt der Agora-Schule in Roermond (NL). «zdf heute» hat ein 2-minütiges Video-Porträt über die Agora-Schule in den Niederlanden gedreht (Sep 2023).
Wie Lehrerin Claudia Dallet Freiräume nutzt
Claudia Dallet ist seit über 25 Jahren Lehrerin an der Orientierungsschule in Tafers. Sie arbeitet fächerübergreifend und teilt ihre Lektionen frei ein. Zum Porträt