Kolumne von Rahel Tschopp
Ich besuche das altehrwürdige Schulhaus Hirschengraben, mitten im pulsierenden Herzen Zürichs. Das Schulzimmer der Primarlehrerin Katrin Meier ist in drei Bereiche gegliedert: In der Mitte ein grosser Gruppentisch, an den Seiten die Pulte der Kinder.
Katrins Klasse setzt sich aus Kindern im Alter zwischen 8 und 13 Jahren zusammen. Noch vor Schulbeginn trudeln die ersten Kinder ein, manche bereits 30 Minuten vorher. Die Lehrerin nutzt diese Zeit für Gespräche: Jedes Kind wird gehört, bevor der Unterricht offiziell beginnt.



Nach der Begrüssung startet die Arbeitsphase: Mathematik, Deutsch, Englisch, NMG. Jedes Kind arbeitet an eigenen Themen. Die Atmosphäre ist ruhig, die Kinder sind konzentriert. Wer Fragen hat oder sich austauschen will, setzt sich an den Gruppentisch. Katrin scheint alle im Blick zu haben. Gemeinsam mit der Klassenassistentin unterstützt sie die Kinder individuell. Besonders beeindruckend: Niemand wird ausgebremst. Ein Mädchen löst bereits Algebra-Aufgaben, die eigentlich erst in der Sekundarstufe behandelt werden. Oft werden solche Kinder mit Knobelaufgaben beschäftigt – hier ist das anders.
«Ganz wichtig: Wenn dir langweilig ist, frag nach, ob du das wirklich machen musst.»
Wie organisiert Katrin das individuelle Lernsetting? «Ich habe gelernt, loszulassen», sagt sie. Sie hat sich komplett von Lehrmitteln gelöst und bündelt Grundkompetenzen in Mathematik und Deutsch thematisch. Jedes Kind plant gemeinsam mit ihr, woran es in den kommenden Wochen arbeiten möchte. Die Materialien liegen gedruckt in Ordnern bereit. Katrin spielt aber nicht Kopiermaschine. Statt alles vorzubereiten, übernimmt die Lehrerin eine moderierende Rolle. Die Kinder kopieren sich Arbeitsblätter selbst, nutzen Hilfsmaterialien und dokumentieren ihren Lernprozess in Lernheften. Einmal wöchentlich gibt es ein schriftliches Feedback der Lehrerin, etwa: «Nicht aufgeben mit der Rechtschreibung, wir schaffen das.» Oder: «Ganz wichtig: Wenn dir langweilig ist, frag nach, ob du das wirklich machen musst.»



Die Lernkultur basiert auf gegenseitiger Motivation. «Neue Kinder nehmen es anfangs sehr gemütlich, sie ‘schlendern’ durch Mathe und Deutsch», erzählt Katrin. «Doch schon nach wenigen Tagen spüren sie den Sog – den Antrieb, mehr wissen zu wollen, eigene Themen zu entdecken.» Die Kinder unterstützen sich gegenseitig, tragen das System mit. Die Beziehungsarbeit der Lehrerin spielt dabei eine zentrale Rolle. Man spürt: Diese Klasse ist als Team unterwegs!
Auf meine Frage, ob Katrin nicht lieber in einer Jahrgangsklasse arbeiten würde, meint sie: «Nie im Leben! Ich sehe tagtäglich, wie einfach es ist, in dieser heterogenen Gemeinschaft alle Kinder einzubeziehen.»

Katrin Meier im Live-Interview
Schaue dir die Aufzeichnung des einmalig durchgeführten Webinars vom 14. April 2025 mit Rahel Tschopp und Katrin Meier an. In 75 Minuten lernst du ein praxisnahes Modell kennen, das von der Vielfalt und Heterogenität der Kinder lebt.
Bei Interesse kannst du die Aufzeichnung anfordern.

Zu Rahel Tschopp
Rahel Tschopp begleitet mit ihrer Denkreise GmbH Schulen, die sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann, soll und muss Schule heute sein? In ihrer Kolumne für LerNetz Schule gibt sie persönliche Einblicke in ihre Lernreisen zu Volksschulen in der ganzen Schweiz.
In ihrer beruflichen Laufbahn war Rahel Tschopp Primarlehrerin, schulische Heilpädagogin sowie Schulleiterin. In Hamburg studierte sie Change Management. Sie arbeitete während vieler Jahre an der PH Zürich in der Weiterbildung von Lehrpersonen, zuletzt als Leiterin des Zentrums Medienbildung und Informatik. 2021 hat sich Rahel Tschopp mit ihrer Denkreise GmbH selbständig gemacht.