Die Lerneinheit «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» taucht in die Geschichte des Frauenstimmrechts ein. Dabei offenbaren sich auch überraschende Zusammenhänge, wie ein Interview mit Historikerin Prof. Dr. Caroline Arni zeigt.
Frau Arni, warum hat es hierzulande seit der Gründung des Bundesstaats 1848 bis zum Frauenstimmrecht ganze 123 Jahre gedauert?
Ganz simpel: Weil die Männer ihre politischen Rechte nicht mit den Frauen teilen wollten. Gelegenheiten gab es genug: Vor 1971 wurden auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene unzählige Abstimmungen dazu durchgeführt. Mal hiess es, die Frauen seien zu emotional für die Politik, mal diese sei zu schmutzig für sie, den Frauen mangle es an staatsbürgerlicher Reife, sie müssten sich ihre politischen Rechte zuerst verdienen – oder es fehle ihnen der Degen für die Landsgemeinde. In Gemeinden und Kantonen sagte man, der Bund soll vorangehen, hier hiess es, die andern Ebenen seien zuerst dran. Es war der reine Unwille.
Wie lässt sich dieser männliche Unwille historisch erklären?
In der republikanischen Schweiz kamen im 19. Jahrhundert zwei Dinge zusammen. Erstens wurden politische Rechte an angeblich männliche Eigenschaften wie Vernunft und innere Unabhängigkeit geknüpft. Zweitens zimmerte sich die Schweiz eine Identität, die auf Vorstellungen der alten Landsgemeinde und eines Bunds aus Freien und Gleichen aufbaute. Demnach war die Schweiz wesenhaft demokratisch, und Demokratie war männlich. So paradox es tönt: Nicht obwohl, sondern weil die Schweiz in ihrem Selbstverständnis so «urdemokratisch» ist, hat es mit dem Frauenstimmrecht so lange gedauert.
Erst internationale Verpflichtungen und der Anschluss an globale Gemeinschaften in den 1960er-Jahren sowie das Zusammentreffen der traditionellen Frauenstimmrechtsbewegung mit der neuen Frauenbefreiungsbewegung machten das Frauenstimmrecht zu einem zentralen Anliegen…
Um 1970 trafen die traditionsreiche und im ausserparlamentarischen Handeln geübte Frauenstimmrechtsbewegung und die neue Frauenbefreiungsbewegung mit ihren provokativen Protestformen aufeinander. Daraus ging der sogenannte «Marsch nach Bern» vom 1. März 1969 hervor. Er war den einen zu radikal und den andern zu brav, aber er war eine Möglichkeit, wie sich Frauen als Kollektiv Gehör verschaffen konnten.
Wo stehen wir heute in Sachen Gleichberechtigung und politische Gleichstellung?
In der Geschichte des Frauenstimmrechts stecken zwei andere Geschichten, die beide nicht abgeschlossen sind: die der Geschlechtergerechtigkeit und die der demokratischen Teilhabe. Punkto Geschlechtergerechtigkeit war der Frauenstreik von 2019 sehr aussagekräftig. Immer noch zählt heute weniger – an Prestige und Geld –, was Frauen in Männerdomänen tun und was vor allem Frauen tun: Hausarbeit, Sorgearbeit, Kinderbetreuung. Diese Tätigkeiten haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht so sehr zwischen Frauen und Männern, sondern zwischen verschiedenen Gruppen von Frauen neu verteilt. Und in Bezug auf Teilhabe muss sich jede Gesellschaft immer wieder der Frage stellen, wen sie – und aus welchen Gründen – über gemeinsame Angelegenheiten mitbestimmen lässt und wen nicht. Sie stellt sich zurzeit wohl am dringlichsten mit Blick auf die Mitsprache von Menschen, die ohne Schweizer Pass Teil dieser Gesellschaft sind.
Welchen Beitrag kann die Schule aus Ihrer Sicht an die Gleichstellung der Geschlechter beitragen?
Ich spreche lieber von Gleichberechtigung als Gleichstellung. Zu dieser kann die Schule meines Erachtens – wie zu anderen politischen Fragen – beitragen, indem sie die Schülerinnen und Schüler zur eigenständigen Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse befähigt. Konkret heisst das: Indem sie historisches Grundlagenwissen vermittelt, ergebnisoffenes Fragen praktiziert und Diskursfähigkeit auf allen Seiten pflegt.
Lerneinheit «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz»
Die Lerneinheit «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» für Sekundarstufe I und II bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte und Bedeutung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Die Inhalte decken die historischen Kämpfe, bedeutende Ereignisse und Schlüsselfiguren im Kampf um Gleichberechtigung ab.
In einer kostenlosen Online-Einführung führt dich Bettina Fredrich, Leiterin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF, durch die Lerneinheit und diskutiert mit dir Möglichkeiten für den Einsatz im Unterricht:
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Es handelt sich bei diesem Interview um einen gekürzten und um eine Frage ergänzten Wiederabdruck eines zuerst auf dem Blog der Universität Basel publizierten Interviews. Zum Originalinterview