Kolumne von Rahel Tschopp
Alles wirkt wie gewohnt: Kinder wuseln durch den Flur, eine Gruppe spielt in der Bauecke, andere vertiefen sich ins Malen oder stecken die Nase in ein Buch. Doch etwas ist anders – eine Atmosphäre, die mich neugierig macht.
In einem der Räume beobachte ich eine Szene, die sich mir einprägt: Zwei Kinder sitzen auf einem Teppich, auf dem verschiedene Materialien liegen – Bauklötze, Playmobilfiguren, bunte Stoffe, glitzernde Steine. Die Kinder berühren die Gegenstände mit Sorgfalt, ordnen Figuren, richten kleine Kissen. An einem Tisch sortiert ein anderes Kind die Farbstifte in einem Regenbogenmuster. Keine Hektik. Stattdessen ein beinahe feierliches Tun. Ich frage nach. Die Lehrperson lächelt: «Sie sind am Schönräumen.»

Schönräumen, um zurückzukehren
In Bürglen (TG) wird nicht nur aufgeräumt. Das Zyklus-1-Team arbeitet mit dem Begriff «Schönräumen». Der Unterschied scheint zunächst klein, ist aber in der Praxis bedeutsam. Während «Aufräumen» bedeutet, Dinge an ihren Ursprungsort zurückzustellen – möglichst neutral, sauber, funktional –, geht es beim «Schönräumen» um etwas Tieferes: einen liebevollen, achtsamen Unterbruch eines begonnenen Prozesses.
Wenn Kinder mitten im Spiel oder Lernen stecken und unterbrechen müssen, gestalten sie ihren Platz so, dass eine Rückkehr am nächsten Tag Freude macht. Playmobilmenschen werden schlafen gelegt. Werkzeuge ordentlich ausgerichtet. Kleine Spielszenen arrangiert. Allfällige Abfälle werden entsorgt, überschüssiges Material zurückgegeben. Und am Ende werfen die Kinder einen letzten Blick zurück – wie ein stilles Versprechen: «Hier mache ich weiter.»


Ein achtsamer Sommerabschied
In den Wochen vor den Sommerferien erhält das Schönräumen eine neue Dimension. Die Kinder helfen, Spielmaterial zu putzen, Regale abzustauben, Bereiche neu zu sortieren. Wenn ein Raum vollständig gereinigt ist, wird er für das kommende Schuljahr «schöngemacht»: liebevoll geordnet, mit Tüchern abgedeckt – fast wie ein Geschenk, das darauf wartet, wieder geöffnet zu werden.
Dabei verabschieden sich die Kinder in kleinen Etappen. Jene, die den Zyklus verlassen, nehmen nach und nach Abschied von gewohnten Ecken. Diejenigen, die bleiben, gestalten mit, bereiten vor. Die Lehrpersonen beobachten staunend, wie selbstverständlich sich die Kinder in diesen Prozess einbringen. Sie übernehmen Verantwortung, achten aufeinander und auf die Dinge. Und immer öfter fällt ein begeistertes «YES!», wenn es heisst: «Heute räumen wir schön.»




Kultur beginnt in kleinen Gesten
Schönräumen ist mehr als eine Methode. Es ist eine Haltung. Eine Einladung an Kinder, ihre Umgebung als etwas Wertvolles zu begreifen – nicht nur als Raum zum Tun, sondern auch als Raum zum Pflegen, zum Innehalten, zum Weitermachen.
Ich verlasse das Schulhaus in Bürglen mit dem Gefühl, etwas Wichtiges gelernt zu haben. Schönräumen ist eine stille Kulturtechnik. Und vielleicht eine Antwort auf die Frage, wie Schule Orte schaffen kann, an denen Lernen beginnt – und mit Freude weitergeht.

Zu Rahel Tschopp
Rahel Tschopp begleitet mit ihrer Denkreise GmbH Schulen, die sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann, soll und muss Schule heute sein? In ihrer Kolumne für LerNetz Schule gibt sie persönliche Einblicke in ihre Lernreisen zu Volksschulen in der ganzen Schweiz.
In ihrer beruflichen Laufbahn war Rahel Tschopp Primarlehrerin, schulische Heilpädagogin sowie Schulleiterin. In Hamburg studierte sie Change Management. Sie arbeitete während vieler Jahre an der PH Zürich in der Weiterbildung von Lehrpersonen, zuletzt als Leiterin des Zentrums Medienbildung und Informatik. 2021 hat sich Rahel Tschopp mit ihrer Denkreise GmbH selbständig gemacht.