Lernen ist kein Rätsel, aber zu oft unsichtbar

Folge 2 der Serie «Lernen heute: Insights aus Forschung und Praxis»

Warum verlieren viele Schüler:innen ihre Lernmotivation? Und wie können Schulen das Lernen wirksam unterstützen? Ein Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Beywl von der FHNW über Motivation, Selbstwirksamkeit und sichtbare Lernfortschritte.

Wie wir in der ersten Folge unserer Serie «Lernen heute» gezeigt haben, weiss die Wissenschaft viel darüber, was Lernen wirksam macht: Neue Verknüpfungen im Gehirn sind entscheidend, Emotionen fördern den Lernerfolg, Motivation und Selbstwirksamkeit sind zentrale Treiber – und gemeinsames Lernen ist oft erfolgreicher als individuelles. Und doch bleibt das grosse Ganze komplex. Denn Lernen ist nie vollständig planbar. Es ist individuell, kontextabhängig und sozial geprägt.

Auch für guten Unterricht gibt es heute fundierte Erkenntnisse. John Hatties Meta-Synthesen (siehe auch Buch-Tipp am Ende des Beitrags) zeigen, welche Faktoren besonders stark mit Lernerfolg zusammenhängen: Feedback, die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lernenden oder die Klarheit von Zielen gehören zu den wichtigsten. Wir wissen also, was wirkt. Gleichzeitig dürfen wir uns von der scheinbaren Präzision der Effektstärken nicht täuschen lassen – sie beruhen auf Durchschnittswerten und können nicht voraussagen, was in deiner Klasse mit diesen Kindern in einer bestimmten Situation funktioniert. Aber sie sind wichtige Anhaltspunkte dafür, was sich lohnt, zu probieren.

Wie das Lernen in der Schule unterstützt werden kann, darüber haben wir mit Wolfgang Beywl, Dozent Schul- und Unterrichtsevaluation an FHNW, gesprochen.

Wolfgang, Menschen wollen von Natur aus lernen, insbesondere Kinder. Warum müssen viele Lernende dennoch fürs Lernen motiviert werden?

Viele Schüler:innen verlieren ihre intrinsische Motivation bereits im zweiten Zyklus – ein Phänomen, das nicht neu ist. Schon 1990 zeigte eine Befragung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz bei über 2000 Lehrpersonen Beispiele dafür. Heute werden als Ursachen oft Smartphones und soziale Medien genannt. Aufgrund der früheren Ergebnisse müssen wir jedoch sagen: Die schulischen Strukturen selbst tragen seit Langem dazu bei, dass ein Teil der Lernenden den inneren Antrieb verliert.

Wie meinst du das konkret?

Lehrpersonen verstehen sich häufig vorrangig als Fachexpert:innen und zu selten auch als Lernprozessbegleiter:innen. Sich in die Perspektive der Lernenden hineinzuversetzen ist anspruchsvoll, besonders in heterogenen Klassen. Der Frage, wie sich intrinsische Motivation erhalten lässt, wird bislang zu wenig konsequent nachgegangen. So droht die Lücke zu wachsen zwischen dem, was Lernende bereit sind zu investieren, und dem, was Lehrpersonen und Lehrpläne erwarten.

Was können Schulen und Lehrpersonen tun, damit die intrinsische Motivation nicht schwindet?

Dazu liefert die Selbstbestimmungstheorie der Motivation eine Grundlage: Entscheidend ist, dass die drei Elemente «soziale Zugehörigkeit», «Autonomie» und «Selbstwirksamkeit» in ausreichendem Mass sichergestellt sind. Externe Anreize – eine Belohnung, eine gute Note, ein Wettbewerb – können eine Brücke bauen, aber tragende Motivation entsteht erst, wenn Lernende das Gefühl haben: Ich kann etwas bewirken.

Prof. Dr. Wolfgang Beywl

Prof. Dr. Wolfgang Beywl war Leiter der Professur für Schulentwicklung an der PH FHNW und ist aktuell in der Forschung, Entwicklung und Weiterbildung für Schulen und Hochschulen tätig. Er ist Co-Übersetzer und Co-Autor mehrerer Visible-Learning-Bücher von John Hattie.

Was heisst das in Bezug auf die Selbstwirksamkeit?

Wenn ein Schüler über Jahre dieselbe Note in einem Fach erhält, bleiben Lernfortschritte unsichtbar, denn die Note ist ja immer dieselbe. Das hat gravierende Folgen für das Erleben der Selbstwirksamkeit. Lehrpersonen spüren diesen Frust ebenfalls: Sie investieren Energie, können mit Noten aber keine Veränderung zeigen. Deshalb ist es für beide Seiten zentral, dass Lernende ihren Fortschritt unabhängig von Noten sehen können.

Wie macht man Lernfortschritte sichtbar?

Ich habe kürzlich einen Vortrag von Chris Bradbeer zum Thema «Learning Spaces» gehört. Er war Vizedirektor der Stonefields School in Auckland (Neuseeland) und zeigte vielfältige Möglichkeiten der Nutzung von Raum auf. Als Übung mussten wir einen Lernenden auswählen und überlegen, welche Lernräume dieser aufgrund seiner Stärken und Schwächen benötigt: für Austausch, Inputs, selbstgesteuertes Lernen und so weiter.

Da stellt sich mir sofort die Frage: Wenn es 20 Lernende mit zehn verschiedenen Bedürfnissen gibt, wie kann da ein optimales Setting geschaffen werden?

Eine einzelne Lehrperson im Klassenzimmer kann das nicht leisten. Lernende müssen ihre passenden Settings selbst finden. Und dies kann gelingen, wenn sich Lernende in der ganzen Schule bewegen, und wenn sie dies eigenverantwortlich tun können. Schulen, die entsprechende Strukturen schaffen, ermöglichen individuelle Lernwege, Spielräume für die Lernenden und Entlastung für Lehrpersonen. Entscheidend ist die Bereitschaft, wirklich durch die Augen der Lernenden zu schauen und ihnen Selbststeuerung zu ermöglichen. Wer diese Haltung konsequent einnimmt, öffnet Türen für intrinsische Motivation.

«Echte Motivation entsteht, wenn Lernende das Gefühl haben: Ich kann etwas bewirken»

Vielen sehen einen solchen Wandel als unrealistisch. Wie schätzt du das ein?

Ich denke, das Schulsystem steht kurz vor einer Schwelle. Und einzelne sind schon darüber hinaus! Digitale Lernumgebungen eröffnen neue Möglichkeiten. In den kommenden zehn Jahren wird dadurch ein kultureller Veränderungsprozess stattfinden. Der entscheidende Durchbruch ist die digitale Abbildung von Lernfortschritten. Schülerinnen und Schüler füllen diese wie Portfolios. Darauf lassen sich Gruppenbildungen und Individualisierungen aufbauen, auch Jahrgangs- und Niveau-übergreifend.

Erleben Lehrpersonen dadurch nicht einen Bedeutungsverlust?

Im Gegenteil: Sie haben mehr Zeit und bessere Grundlagen für die Lernbegleitung. Sie schaffen den Rahmen, geben Orientierung und unterstützen auch die Lernprozesse gezielt. Sie fördern Selbstreflexion, Verantwortung und Motivation, statt den Lernenden Wege vorzuschreiben. Die digitalen Werkzeuge sind also kein Selbstzweck, sondern das Mittel, um Lernen wirklich massgeschneidert zu gestalten.

Zwei Kinder spielen ein Lernspiel auf einem Tablet.
Digitale Werkzeuge und Tools brauchen Begleitung durch die Lehrperson.

Welche Schulen arbeiten bereits so?

Die Stonefields School zum Beispiel instruiert zunächst die Lernenden, um ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung aufzubauen. Über das Lernmanagementsystem werden individuelle Aufgaben zugewiesen, Algorithmen weisen auf Teilgruppen hin, die im Lernen verzögert sind. Die Alemannenschule Wutöschingen (Deutschland) setzt von Anfang an stärker auf Selbststeuerung und -regulation, kombiniert mit wöchentlichem Coaching. Jedes Kind hat auch dort einen individuellen Stundenplan. Im Kern verfolgen beide Schulen denselben Ansatz: Lernfortschritte sichtbar zu machen und mehr Selbstwirksamkeit zu ermöglichen.

Was muss eine Schule konkret tun, wenn sie Lernfortschritte sichtbar machen möchte?

Eine gemeinsame digitale Strategie auf Schulebene ist das Rückgrat jeder Weiterentwicklung. Lernfortschritte müssen für alle einfach zugänglich und sichtbar sein. Aber auch wenn diese Voraussetzung an vielen Schulen noch nicht gegeben sind, kann jede Lehrperson bereits heute im eigenen Unterricht, mit einfachen Mitteln selbst damit beginnen. Entscheidend ist, dass Lernende erkennen, was sie schon können, wo sie stehen und wie sie weiterkommen. Diese Sichtbarkeit ist keine technische Frage, sondern eine pädagogische Haltung. Und sie ist zentral für grosse Lernfortschritte und echte Selbstwirksamkeit.

«Lernfortschritte müssen für alle einfach zugänglich und sichtbar sein»

Wie kann künstliche Intelligenz das Lernen unterstützen, ohne den Lernprozess zu schwächen?

Es braucht Assistenzsysteme, die Lernende beim Vertiefen von Inhalten sinnvoll begleiten, also in erster Linie Fragen stellen und nicht Antworten liefern. Künstliche Intelligenz darf die kognitive Arbeit des Verstehens nicht ersetzen. Denn so würde sie den Lernprozess schwächen. Lehrpersonen sollten diese Entwicklung aufmerksam und vorausschauend steuern. Eine gute Balance zwischen analogen und digitalen Methoden bleibt wichtig: Haptische, visuelle und auditive Erfahrungen sind ebenso notwendig wie eine digitale Unterstützung.

Schüler beim Gestalten eines Plakats mit Stift und Papier.
Trotz KI: Haptische Lernerfahrungen bleiben grundlegend.

Viele Lehrpersonen machen bereits hervorragenden Unterricht. Warum lohnt es sich dennoch, neue Wege auszuprobieren? Und was würdest du ihnen konkret empfehlen?

Mein Rat: Sorge dafür, dass dein Unterricht möglichst wirksam ist. Mach Lernen für die Lernenden sichtbar. Versuche nicht, die ganze Schule im Alleingang zu verändern. Arbeite dafür mit anderen zusammen, direkt für den Unterricht. Und achte auf dich selbst – denn Lehrpersonen brauchen Erfolgserlebnisse, damit die eigene Arbeit als eine sinnvolle, befriedigende empfunden wird.

Was können Lehrpersonen sofort umsetzen?

Ich empfehle das Luuise-Verfahren. Bereits etwa 2000 Lehrpersonen haben es eingesetzt. Im Rahmen von rund fünf Stunden Weiterbildung lernen Lehrpersonen das Muster kennen und entwickeln einen Prototyp. Er beinhaltet einen Unterrichtsplan mit Zielen und Interventionen und ein darauf abgestimmtes Instrument zur Datenerhebung – das ist das neue Element. Der zentrale Gedanke: Mach sichtbar, was bei den Lernenden tatsächlich passiert. Sprich mit den Lernenden regelmässig darüber. Interessiere sie dafür, den Unterricht und ihr Lernen zu gestalten, nicht nur Lernende, sondern auch Mit-Lehrende zu sein. Wenn man dieses Luuise-Muster ein paarmal umsetzt, wird es zum selbstverständlichen Bestandteil des professionellen Handelns. Das ist unaufwändige, sofort wirksame, datengestützte Unterrichtsentwicklung.

In manchen Schulen erzielen Lernende überdurchschnittliche Fortschritte. Was machen diese Schulen anders – und wie können andere Schulen davon lernen?

Das zu zeigen, wäre eine wichtige Aufgabe der Schule. Das machen zu wenige. Ich staune oft, was in Schulen bewegt wird. Das bekomme ich meist erst raus, wenn ich kleinteilig nachfrage. Zuerst müssen überdurchschnittlich wirksame Lehr- und Lernpfade intern sichtbar werden. Dazu braucht es Schulleitungen, die dies fördern, und eine Kultur, die dokumentierten Austausch im Kollegium ermöglicht und anerkennt. Der nächste Schritt ist, die Konzepte auch nach aussen zu tragen und mit anderen Schulen zu teilen.

Welchen Tipp würdest du dem LerNetz Schule-Team für die Entwicklung von Lernmedien geben, damit wir wirksame Materialien gestalten?

Bindet regelmässig Lernende als Testende ein. Ladet sie ein, gebt ihnen Materialien und führt Gruppendiskussionen in einer Phase, in der Anpassungen noch möglich sind. Hattie betont zu Recht: Lernende sind die Expert:innen des Lernens. Daher redet mit ihnen über das Lernen und das Lehren.


Buch-Tipp: «Lehren und Lernen sichtbar machen»

Der im Mai 2025 erschienene Illustrierte Leitfaden «Lehren und Lernen sichtbar machen» fasst die Kernideen aus John Hatties über 30-jähriger Forschung zusammen. ISBN 978-3-8340-2280-6

John Hattie kommt in die Schweiz

Am 18. März 2026 findet ein Vortrag von John Hattie an der FHNW in Windisch statt. Im Vortrag wird John Hattie aufzeigen, welche Faktoren einen starken Einfluss auf den Lernerfolg haben, wie Schulen ein förderliches Lernklima schaffen können und welche Instrumente Lernen sichtbar machen. Die PH Zürich produziert zudem mit John Hattie und Janet Clinton einen Podcast, der in der Reihe «Resonanzraum Bildung» verfügbar sein wird.


Serie «Lernen heute: Insights aus Forschung und Praxis»

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