Folge 1 der Serie «Lernen heute: Was sagt die Forschung?»
Die Neurowissenschaft hat seit den 90er-Jahren Mythen übers Lernen entlarvt. Noch halten sich einige davon hartnäckig. Wir haben nachgefragt, wie nach neusten Erkenntnissen Lernerfahrungen gehirngerecht werden.
«Es gibt drei Lerntypen», höre ich noch heute Herrn W., meinen Sek-Lehrer, referieren, «den visuellen, auditorischen und den kinästhetischen». Fremdwörter klangen damals vertrauenerweckend, wissenschaftlich. Und einleuchtend war es auch: Visuelle Typen lernen über Bilder, Videos oder geschriebenes Wort. Auditorische Typen brauchen hingegen den Input übers Ohr und für kinästhetische Menschen erschliesst sich Neues durch Bewegung oder physische Berührung. Ich wusste sofort: Ich bin der visuelle Typ. Das war in den 90er-Jahren.
Neuromythen
Bereits im Jahr 2002 hat ein Team aus Erziehungs- und Neurowissenschaft im OECD-Projekt «Brain and Learning» diese und weitere Fehlannahmen widerlegt. Darauf folgten internationale Umfrage-Studien mit dem Ziel, herauszufinden, wie verbreitet solche «Neuromythen» unter Lehrpersonen und pädagogischem Fachpersonal sind. In allen untersuchten Ländern, von den USA bis China, hielten die Mehrheit der Befragten die meisten Mythen für wahr. An die drei Lerntypen glaubten sogar 90 Prozent!

Zahlreiche Studien hatten aber schon damals widerlegt, dass Individuen ausschliesslich über einzelne Kanäle der Sinnwahrnehmung effektiv lernen. Zwar existieren Vorlieben, doch selbst diese sind nicht konsistent, sie verändern sich über die Zeit. Von «Lerntypen» kann also nicht die Rede sein.
Vernunft links, Intuition rechts?
Die Wissenschaft hat noch weiteren Neuromythen den Kampf angesagt, so etwa der Überzeugung, die linke Hirnhälfte denke analytisch, verbal und rational, während die rechte Hälfte für Kreativität, Intuition und Nichtverbales zuständig sei. Lange musste diese pseudowissenschaftliche Einteilung sogar hinhalten, um einen charakterlichen Unterschied der Geschlechter biologisch zu plausibilisieren: Frauen würden eher die rechte Hirnhälfte nutzen, Männer die linke.
Dass die Hirnhälften in ihrer Struktur und Funktion unterschiedlich sind, stimmt zwar. Die Zuteilung ist jedoch falsch. So geschieht etwa das Erkennen einer Sprachmelodie oder das Lesen zwischen den Zeilen vorwiegend in der scheinbar nonverbalen, rechten Hirnhälfte. Wenn wir Lernen, sind sogar meistens Areale beider Hirnhälften involviert, die wiederum über den Balken (Corpus Callosum) miteinander verbunden sind und ständig kommunizieren.
Ein Leben lang plastisch
Neuromythen haben die Tendenz, dem Gehirn eine Starrheit anzudichten. Sie werden damit einer wichtigen Eigenschaft unseres komplexesten Organs nicht gerecht: der Plastizität, der Fähigkeit, sich zu wandeln. Und zwar – entgegen einem anderen weit verbreiteten Mythos – von der Kindheit bis ins Alter!
Doch was bedeutet das fürs Lernen? Für zeitgemässe Bildungsmedien, die Gestaltung des Unterrichts? Diese Fragen interessieren uns bei LerNetz Schule brennend. Um sie zu beantworten, wollen wir Althergebrachtes abstreifen und uns an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Angespornt davon, haben wir in einem Exklusiv-Interview zwei Forschende befragt, welche Bedingungen aus heutiger Sicht fürs Lernen wichtig sind.
Nicht Druck, sondern positive Emotionen
«Wir sind Lernwesen», sagt Prof. Dr. Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler und Psychologe, «Lernen wird aber dann zur Qual, wenn es von Angst, Stress und Überlastung begleitet ist.» Auch Langeweile kann uns hindern, voranzukommen.

Sowieso gehe Lernen nie ohne Emotionen vonstatten, betont Dr. Maria Brasser, Neurowissenschaftlerin, Lehrerin und Mitgründerin der Hirncoach AG. «Am gleichen Ort im Gehirn, wo wir Emotionen verarbeiten, nämlich im Hippocampus, speichern wir auch Informationen langfristig ab.» Humor einzusetzen etwa helfe durch positive Emotionen das Lernen zu stimulieren. Brasser: «Humor ist wie eine Dusche, die von der Mitte des Gehirns überallhin ausstrahlt, bis hinab in den ganzen Körper.» Negative Emotionen hingegen bremsen, lähmen – ausser in Krisensituationen, ergänzt Jäncke in Anspielung an frühere Phasen der Menschheitsgeschichte: «Feuer oder Fressfeind».
Atmen statt scrollen
Was in der Lebenswelt unserer Urahnen nicht vorkam: Multitasking. Gemäss Brasser ist es Gift fürs Lernen. Genau betrachtet, so Angelika Hardegger in der Republik, kann das Gehirn gar kein Multitasking. Es ist lediglich imstande, rasch zwischen einzelnen Aufgaben hin- und herzuspringen. Doch dieses sogenannte Task-Switching macht uns unproduktiver und wir riskieren damit auf Dauer die Verminderung wichtiger Fähigkeiten: das Filtern von Relevantem oder unser Erinnerungsvermögen.
Auch Feeds, in denen wir uns gedanklich vom Katzenvideo über das Dessert der Freundin bis zum Zitat von Donald Trump hangeln, sind aus neurowissenschaftlicher Sicht schädlich. «Pausen, in denen gescrollt wird, tun dem Gehirn nicht gut.» Beide Forschende unterstreichen: Das Gehirn braucht Fokussierung – und wir alle wissen: Smartphones und wie wir sie nutzen, stehen einer konzentrierten Tätigkeit oft im Weg.

Dr. Maria Brasser ist Neurowissenschaftlerin, Mitgründerin der Hirncoach AG und ehemalige Lehrerin.
Sie promovierte in kognitiven und affektiven Neurowissenschaften an der Universität Zürich und verfügt über mehr als 13 Jahre Unterrichtserfahrung an der Gewerbeschule Chur.
Prof. Dr. Lutz Jäncke ist Neurowissenschaftler und Psychologe, der sich seit Jahrzehnten mit dem Gehirn des Menschen und dem Verhalten wissenschaftlich beschäftigt. Er ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Neuropsychologie an der Universität Zürich.

Die Tipps von Brasser: «Das Gehirn liebt alles, was mit Bewegung zu tun hat.» Die ideale Pause sei darum eine Bewegungs- oder auch Atempause. Ausserdem: Für konzentrierte Lernsequenzen das Handy ausser Sichtweite verstauen; es lenkt schon durch seine Anwesenheit ab!
Das synchronisierte Gehirn
Ein Punkt ist Prof. Dr. Lutz Jäncke besonders wichtig: «Für das soziale Lernen sind wir von der Evolution speziell vorbereitet.» Daher spielen für die Umgebung, in der wir Lernen fördern wollen, Beziehungen zu den Mitmenschen eine herausragende Rolle. Dr. Maria Brasser formuliert es so: «Kooperatives Lernen ist gehirngerechtes Lernen.» Spiegelneuronen bewirken, dass sich beim Zuschauen die gleichen Areale in unserem Gehirn aktivieren, wie wenn wir die beobachtete Tätigkeit selbst ausüben würden: «Gehirne können sich synchronisieren!»
In der sozialen Interaktion hören, sehen, riechen, spüren wir und lernen so am effektivsten. Neurowissenschaftlich ausgedrückt: Unser Gehirn ist eingestellt auf multisensorische Verknüpfungen. «Lernen heisst eben nicht nur einfach etwas lesen und versuchen, es zu erinnern», sagt Brasser. Auch Jäncke betont: «Wir müssen Informationen schon beim Aufnehmen vielfältig verkoppeln, dazu gehört Visuelles, Haptisches, Auditives.»
Lernen passiert also dort, wo ein Miteinander zu positiven Emotionen führt, Konzentration gefördert wird durch das gezielte Vermeiden von Ablenkung, wo unser Körper involviert ist und eine Verknüpfung von verschiedenen Sinnen angestrebt wird.

Ich als scheinbar visueller Typ durfte mittlerweile auch genug Lernerfahrungen sammeln, bei denen andere Sinne mich entscheidend vorangebracht haben – oder eben die Verknüpfung davon! Ich werde also weiterhin der wissenschaftlichen Entlarvung von Mythen über das Lernen Aufmerksamkeit schenken und versuchen, Lernerfahrungen – für mich und andere – gehirngerecht zu gestalten.
Joshua Muhl ist ehemaliger Deutschlehrer auf Stufe Sek 2 sowie Multimediaproducer und seit 2024 Teil des LerNetz-Schule-Teams.
Video-Interviews mit Dr. Maria Brasser und Prof. Dr. Lutz Jäncke
Weitere Quellen