Porträt aus der Serie «Menschen an der Schule»
Gamen – die grosse Bedrohung für Kinder? Nein, sagt die Primarlehrerin Sonya de Matos (33). Sie verbindet ihre Leidenschaft fürs Gaming mit pädagogischem Feingefühl. Ihr Motto: Keine Berührungsängste bei heiklen Themen und ein starkes Vertrauensverhältnis zu ihren Schüler*innen.
Ich mache kein Geheimnis daraus. Am ersten Elternabend sage ich explizit: Gamen ist mein Hobby! Ein Grossteil der Kinder lernt diese Welt früher oder später kennen, etwa über Roblox, Minecraft oder andere Games. Nächstes Jahr kommt GTA VI auf den Markt – und ich werde mir das Spiel kaufen, weil ich Lust darauf habe!

«Was Kinder beim Gamen lernen können? Frustrationstoleranz. Du verlierst immer und immer wieder. Du fällst hin, stehst wieder auf.»
Diese Offenheit schafft Nähe. Ich unterrichte eine Mittelstufe im Schulhaus Hofacker Rickenbach und ziehe als Lehrerin deutliche Vorteile daraus, dass ich mich im Gamer-Universum gut auskenne.
Natürlich finden die Kinder das erst mal «cool». Viel wichtiger ist jedoch, dass sie mit mir offen über ihre Erfahrungen in Games sprechen können – sowohl über Erfolgserlebnisse als auch über Inhalte, die sie verunsichern oder überfordern. Ein gutes Beispiel sind die GTA-Spiele: Obwohl diese offiziell erst für Erwachsene freigegeben sind, kommen viele Kinder früh damit in Berührung – sei es durch YouTube-Videos oder weil sie das Spiel zu Hause spielen dürfen. Wenn in solchen Spielen plötzlich Gewalt oder sexuelle Szenen auftauchen, bin ich als erwachsene Ansprechperson da, die einerseits die Faszination der Spiele versteht, aber auch Orientierung bieten kann. Genau in diesen Momenten entstehen wichtige Gespräche: «Was hast du dabei gefühlt?», «War das für dich in Ordnung?», «Wie würdest du in einer echten Situation reagieren?». Ich begleite die Kinder bewusst bei diesen Reflexionen, denn ich bin überzeugt: Nur wer ernst genommen wird, öffnet sich auch.

Ich selbst habe das Gamen schon früh entdeckt. In meiner Klasse war ich das einzige Mädchen, das gamte. Mein Spitzname war «Panzer», weil ich Ballerspiele mochte. Als ich vor vier Jahren mit dem Unterrichten begann, waren viele Eltern skeptisch. Die Sorge um Sucht, Gewalt und negativer Prägung war gross. Heute kommt mir schon eine andere Haltung entgegen: mehr Interesse als Besorgnis. Das freut mich, denn Eltern kommen heute kaum mehr darum herum, sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen.
Im Unterricht zocken wir selbstverständlich nicht, aber ich setze gezielt digitale Lernangebote ein, die einen spielerischen Zugang zu Fachinhalten ermöglichen – zum Beispiel 99math im Mathematikunterricht, Gimkit für Englisch oder das klassische Kahoot für NMG. Die sind auch spielerisch aufgebaut, es geht aber im Kern darum, Inhalte zu lernen. In Games, die sie in der Freizeit spielen, ist der Inhalt nebensächlich und sehr unterschiedlich. Was sie aber dort lernen können: Frustrationstoleranz! Du verlierst immer und immer wieder. Du fällst hin, stehst wieder auf.
Diese Erfahrung ist keineswegs aufs Gamen beschränkt – sie ist typisch für viele Freizeitaktivitäten. Das ist wie bei anderen Hobbys: Ob du Voltigieren lernst, Wintersport betreibst oder BMX fahren willst, du scheiterst oft, doch irgendwann kommst du weiter. Dabei ist es wichtig, Frust auszuhalten und zu reflektieren, warum es nicht geklappt hat – genauso wie beim Gamen. Irgendwann kommst du darauf, dass du eine andere Taktik versuchen musst, dir eine andere Fähigkeit aneignen oder eine bessere Ausrüstung beschaffen könntest, um den Endboss zu besiegen!

Solche Denkweisen nehme ich mit in den Unterricht. Genau dort kann ich in der Schule anknüpfen. Ich benutze dieselbe Logik: Ja, die Englisch-Vokabeln sind herausfordernd – aber wir starten mit den einfachen Wörtern und du arbeitest dich von Level zu Level weiter vor.»
Gerade in unserer Zeit ist es besonders wichtig, Frustrationstoleranz bewusst aufzubauen. Vieles im Leben ist zu einfach geworden: Wenn ich etwas wissen will, muss ich nicht mehr in die Bibliothek, das richtige Buch finden und nach der Information suchen – ich google einfach. Fast alles ist ständig verfügbar. Deswegen baue ich im Unterricht Hürden ein, deren Überwindung Anstrengung erfordert. Selbst wenn das Mathe-Lehrmittel vorgibt, dass bei einer Aufgabe der Taschenrechner benutzt werden darf – wir tun es nicht immer. Lieber vereinfache ich die Aufgabe ein wenig und sie kommen ohne Rechner zur Lösung.
Diese Haltung kommt nicht von ungefähr – sie ist tief in meiner eigenen Schulgeschichte verwurzelt. Die Steigerung der Frustrationstoleranz war für mich selbst eine essenzielle Erfahrung. Ich habe die Schule nämlich gehasst. Ich war sehr leistungsschwach. Mein Selbstbild war: «Du bist dumm, du kannst nichts, und was du kannst, ist nichts wert.» Beim Übertritt in die Sek schaffte ich es knapp ins B. Meine Verzweiflung wuchs. Denn die Berufe, die mir offenstanden, interessierten mich nicht.
Doch dann hatte ich das Glück, in eine Rudolf-Steiner-Schule wechseln zu dürfen. Dort waren nicht mehr Noten zentral, sondern individuelle Förderung und ganzheitliches Lernen. Vieles davon übernehme ich heute in meinen Unterricht, auch wenn ich an einer öffentlichen Schule arbeite. Damals öffnete sich ein Knoten. Plötzlich stand nicht mehr die Frage nach meiner Leistung im Zentrum, sondern die Entwicklung meiner Persönlichkeit: Was interessiert, was begeistert mich? Und wie kann das in meinen Lernprozess einfliessen?
So erwachte langsam ein Selbstvertrauen, ich begann zu ahnen, dass ich nicht einfach dumm bin und nur unnützes Zeug kann. Dass ich nicht für immer «Panzer» bleiben muss, ein Mädchen, das ständig gamt und sonst nichts draufhat. Sondern, dass mehr in mir steckt. Ich begann viel zu lesen, online zu lernen, schaffte es an die Erwachsenen-Matur und absolvierte diese.
Heute bin ich tatsächlich Lehrerin – obwohl das nie mein Plan war. Und ich liebe meinen Beruf. Es ist der beste Job der Welt! Ich begleite Kinder auf ihrem Weg und erinnere sie täglich: «Vielleicht kannst du das heute noch nicht – aber morgen ist ein neuer Tag.»

Meine persönlichen Erfahrungen prägen die Art, wie ich heute unterrichte: Ich arbeite viel in Einzel- oder Partnersettings und begleite die Kinder im Coaching direkt. So entsteht Nähe – und genau diese Nähe zum einzelnen Kind ist mir enorm wichtig. Ich sehe meine Klasse als eine Art erweiterte Familie. Zu jedem Kind baue ich eine starke Beziehung auf, besuche auch gerne mal ihre Aufführungen oder Sportturniere, wenn sie mich einladen. Ich selbst habe erlebt, wie sehr eine fehlende Beziehung zu einer Lehrperson verletzen kann – und wie entscheidend es ist, gesehen zu werden.
Ich bin überzeugt: Wenn ich es geschafft habe – mit meinem schwierigen Start –, dann kann ich auch andere Kinder begleiten, ihre eigenen Wege zu gehen. Ich möchte, dass sie an sich glauben. Dass sie Fehler machen dürfen. Dass sie wachsen dürfen.
Und manchmal hilft dabei auch ein Hobby wie Gamen – nicht als Flucht, sondern als eine Welt, in der man scheitern darf, neu anfangen kann und mit der richtigen Strategie ans Ziel kommt. Genau das wünsche ich meinen Schüler*innen: Dass sie erleben dürfen, wie sie sich selbst «aufleveln» können – nicht nur im Spiel, sondern im echten Leben.
Porträt-Serie «Menschen an der Schule»
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